“Wie baue ich Stories, die so überraschend sind, dass meine Spieler Bauklötze staunen?“
Jedem, der schon einmal eine Folge von „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“ gesehen oder einen x-beliebigen Groschenroman gelesen hat, ist bekannt, dass nichts langweiliger ist als eine von der ersten bis zur letzten Minute vorhersehbare Geschichte. Ganz ähnlich ist es im Rollenspiel. Selbst eine liebevoll gestaltete und gut erzählte Geschichte vermag schwerlich zu fesseln, wenn man sich als Spieler meistens schon denken kann, was als nächstes passiert. Daher sollte auch jeder Spielleiter, der die Anfangsphase der ersten geradlinigen Abenteuer Marke „Wir befreien die Prinzessin aus dem Turm“ hinter sich lassen möchte, sie zu seinem Handwerkszeug zählen: Plot-Twists, also überraschende Wendungen in der Storyline.
von Maja Koutsandreou
Nichtsdestotrotz bereitet das Erschaffen von Plots, die die Spieler nicht nur halbwegs unterhalten oder bauchpinseln, sondern auch überraschen und staunen lassen (und somit umso besser unterhalten), sogar vielen erfahrenen Spielleitern Schwierigkeiten. Das Ergebnis sind häufig entweder banale, unspektakuläre, im schlimmsten Fall sogar langweilige Plots oder aber Wendungen, die so konstruiert sind, dass sie völlig unglaubwürdig wirken.
Dabei ist es gar nicht so schwer, überraschende und dennoch glaubwürdige Plot-Twists zu schaffen, wenn man ein paar Basics beherrscht. Diese Serie soll Spielleitern die wichtigsten Grundlagen zum Erschaffen überraschender Wendungen näherbringen.
Teil 1: Der Überraschungsfeind
Die meisten Plot-Twists lassen sich über den geschickten Einsatz von NSCs erreichen.
Teil 1 widmet sich daher einem wahren Klassiker unter den Plot-Twist-Stilmitteln, dem „Überraschungsfeind“.
Viele klassische Kriminalromane, aber auch Filme funktionieren nach diesem Prinzip: Der Mörder bzw. Bösewicht stellt sich am Schluss als derjenige heraus, mit dem niemand auch nur im Traum gerechnet hätte.
Im Rollenspiel kann ein NSC, der sich völlig unerwartet in einer dramatischen Szene als der Schurke entpuppt, ebenfalls für gemeine, aber höchst formidable Überraschungen sorgen. Hier sind verschiedene Varianten denkbar.
a) Mr. Harmlos
Mr. oder Mrs. Harmlos zeichnen sich dadurch aus, dass man ihnen böse Taten weniger zutraut als den meisten anderen Leuten, sei es etwa aufgrund ihres Alters (Kinder, alte Leute), Erscheinungsbildes (hübsche junge Mädchen mit Engelsgesicht, weißgelockte strickende Omis), ihrer Rolle (Priester, Polizisten) oder anderer Eigenschaften (augenscheinliche Dummheit, Frömmigkeit etc.). Meistens dienen diese Äußerlichkeiten Mr. oder Mrs. Harmlos freilich nur als Tarnung.
Der Film „Die üblichen Verdächtigen“ illustriert dieses Prinzip meisterhaft: Der vermeintlich klumpfüßige, etwas schwachköpfige Kleinkriminelle stellt sich am Schluss als das böse Mastermind heraus. Seine Behinderung war nur gespielt.
Im Rollenspiel lassen sich erfahrungsgemäß sogar Veteranen von Mr. oder Mrs. Harmlos täuschen. Um die Glaubwürdigkeit eines NSCs zu unterstreichen und Misstrauen bei den Spielern erst gar nicht aufkommen zu lassen, können der Einsatz der „Mitleidskarte“ und Appelle an die emotionale Seite der Charaktere Wunder wirken.
Wie wäre es z.B., wenn der zerlumpte, halb verhungerte kleine Straßenjunge, den die Charaktere „zufällig“ aufgelesen und unter ihre Fittiche genommen haben, in Wirklichkeit ein Jahrtausende alter Meistervampir ist, der das Ziel hat, der Gruppe ihr wertvolles mystisches Artefakt zu stehlen?
Eine weitere, weniger plakative Variante von Mr. Harmlos ist der vermeintlich unwichtige NSC, wie etwa ein im Hintergrund agierender Dienstbote, Chauffeur, Geschäftspartner eines Charakters o.ä. Eine solche Rolle erzeugt meist noch weniger Misstrauen als die stärker im Vordergrund stehenden „offensichtlich“ Unschuldigen.
Hier solltest du als Spielleiter nur darauf achten, dass dieser NSC bei den Spielern dennoch einigermaßen präsent ist. Den vor 10 Spielesitzungen einmal aufgetauchten, in einem Nebensatz erwähnten Gärtner von Lord XY, an den sich die Charaktere nicht einmal erinnern können, am Ende eines Spielabschnitts als den Erzschurken zu präsentieren, wird bei den Spielern nicht staunende Gesichter, sondern höchstens fragendes Stirnrunzeln hervorrufen.
b) Der Verräter
Eine weitere beliebte Variation des „Überraschungsfeindes“ ist der Verräter. Als Freund, guter Bekannter oder Verwandter ist er im nahen Umfeld der Gruppe angesiedelt oder gar selbst Mitglied der Gruppe. Umso schockierender ist es, wenn sich diese vermeintliche Vertrauensperson plötzlich als Judas entpuppt, der heimlich mit dem Feind kollaboriert, gegen die Gruppe arbeitet oder gar der Hauptfeind der Gruppe ist.
Für den Einsatz dieses Stilmittels ist es wichtig, dem Verräter ein glaubwürdiges Motiv zu geben.
Bösartigkeit um der Bösartigkeit willen oder Soziopathie sind nicht zwangsläufig schlechte Motive für einen Erzbösewicht, aber denkbar schlechte Motive für einen Verräter.
Dass ein Charakter etwa von seinem geliebten Zwillingsbruder verraten wird, weil dieser, bis dato von der Gruppe völlig unbemerkt, schlicht ein verrückter Sadist ist, wirkt konstruiert und wird den Spielern vermutlich sauer aufstoßen.
Bessere, weil nachvollziehbare Motive sind z.B.
- Geldgier (der langjährige Mitarbeiter, der Firmengeheimnisse an die besser zahlende Konkurrenz verkauft)
- Machtgier (der gute Freund eines Mafiamitgliedes, der diesen ausbootet, um selbst Capo zu werden)
- starke Emotionen wie Neid oder Eifersucht (der Zwilling, der immer im Schatten seines Bruders gestanden hat; die Freundin, die es nie verwinden konnte, dass ihre große Liebe sich in ihre beste Freundin verliebt hat)
- andere Loyalitäten (die Ehefrau des US-Spions, die in Wirklichkeit sowjetische Geheimagentin ist)
- Hass/Rache (Peter Parkers Freund Harry, der sich an Peter rächen möchte, weil er weiß, dass dieser Spiderman ist und seinen Vater getötet hat)
Die Motive des späteren Verräters können den Charakteren im Vorfeld unbekannt sein, wie im Fall der russischen Spionin oder im Fall von Peter Parker, der nicht weiß, dass sein bester Freund seine geheime Identität kennt.
Sie können den SCs aber auch bekannt sein. Wichtig ist dann, dass die Charaktere nicht ahnen dürfen, wie stark das Ausmaß der Gefühle des Verräters ist. So könnte ein SC durchaus wissen, dass ihre beste Freundin vor Jahren einmal unglücklich in den Mann verliebt war, den sie selbst später geheiratet hat. Sie sollte dies dann aber für lange vergeben und vergessen halten, damit der Verräter-Plot funktionieren kann.
c) Zwei Bösewichte
Etwas seltener, aber nichtsdestotrotz bewährt ist auch das Stilmittel, parallel zwei Bösewichte einzusetzen.
Neben einem den Charakteren häufig schon bekannten „Hauptbösewicht“ gibt es noch einen weiteren Schurken, einen Untergebenen/Gehilfen oder aber (wie etwa im Film „Scream“) einen gleichberechtigten Partner des Erzschurken, von deren Existenz die Charaktere nichts ahnen.
Während die SC nun Jagd auf Finsterling Nr. 1 machen (und sich u.U. schon fragen, wie übermenschlich der Gegner ist, gegen den sie kämpfen, da er ihnen offensichtlich immer einige Schritte voraus ist) , kann Finsterling Nr. 2 ungestört agieren. Die Enttarnung des zweiten Bösewichts, sei es durch eine zufällige Entdeckung der Charaktere oder in einer cineastischen, von langer Hand geplanten Szene, bietet Stoff für eine weitere überraschende Wendung.
Das Stilmittel „Zwei Bösewichte“ lässt sich geschickt mit „Mr. Harmlos“ oder, noch besser, mit dem „Verräter“ kombinieren. Denn sollte die Gruppe herausfinden, dass ihr guter Freund, der ihnen monatelang mit Rat und Tat im Kampf gegen ihren Feind zur Seite gestanden hat, in Wirklichkeit dessen Partner ist, ist dies garantiert eine äußerst böse Überraschung, die den Charakteren wie Spielern noch lange im Gedächtnis bleiben wird.
Wie man den „Überraschungsfeind“ ins Spiel bringt
Beim Einsatz des Stilmittels „Überraschungsfeind“ zum Schaffen von Plot-Twists sind vor allem zwei Dinge wichtig:
1. Der Überraschungsfeind muss jemand sein, der den Charakteren bekannt ist. Einen völlig neuen Charakter als den geheimen Erzschurken einzuführen, ist zwar auch möglich, dies führt jedoch nicht zu einem Plot-Twist im Sinne eines „Aha-Effektes“ oder staunenden Augen bei den Spielern.
Beim Überraschungsfeind muss es sich nicht unbedingt um einen Haupt-NSC handeln, er sollte aber präsent genug sein, um in den Augen der Charaktere einen gewissen Wiedererkennungswert zu besitzen.
2. Wer den „Überraschungsfeind“ als Stilmittel verwendet, sollte darauf achten, dieses aufgrund des starken Abnutzungseffekts sparsam zu verwenden. Wenn eine Gruppe sich einmal von einer hübschen blonden Jungfrau oder einem armen Straßenkind hat übers Ohr hauen lassen, wird sie dem nächsten vermeintlich harmlosen NSC mit sehr viel mehr Misstrauen begegnen.
Gerade der Verräter sollte in einer Kampagne nicht öfters als ein oder zwei Mal zum Einsatz kommen. Wird die Gruppe zu oft von vermeintlichen Freunden verraten, wird es irgendwann unmöglich, NSCs einzuführen, die der Gruppe als Verbündete oder zumindest als gute Kontakte dienen sollen, da die Spieler in jedem NSC einen Feind vermuten.
Hier empfiehlt es sich eher, dass, wenn man denn mehrmals Verräter einsetzt, diese nicht alle freiwillig handeln lässt. So könnte etwa die Geliebte eines Spielercharakters diesen verraten haben, weil sie von einem Mafiaboss mit dem Leben ihres Sohnes erpresst wird. Wenn die Gruppe diese „entschuldigenden Gründe“ hinterher herausfindet, wird dies nicht zwangsläufig zu generellem Misstrauen gegenüber anderen NSCs führen, der Effekt, der überraschende Verrat, wurde jedoch erreicht.
Teil 2 der Serie wird sich mit dem Thema „Der vermeintliche Feind“ befassen.